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Dorfchronik Lütgeneder

Aus der Geschichte unseres Dorfes Lütgeneder

von: Josef Leifeld und Alfons Reddemann
aus: Lütgeneder Festschrift zur 1100-Jahr-Feier (erschienen 1987)

Die Ortschaft Lütgeneder kann im Jahre 1987 auf ein 1100-jähriges Bestehen zurückblicken. Ihre erste urkundliche Erwähnung geschah im Herbst des Jahres 887, als Kaiser Karl III. auf Bitten des Paderborner Bischofs Biso die Privilegien des 868 gegründeten Kanonissenstiftes Heerse (Neuenheerse) bestätigte und dem Kloster zudem Besitzungen von 10 Hufen mit Haus und Hof und allem Zubehör in der "Villa Nadri" schenkte. Aus der Ortsbezeichnung "Nadri" entwickelte sich der Name "Neder" und weil in den ältesten Urkunden noch nicht zwischen West- und Ostneder oder "major und minor neder (Groß- und Kleinneder) unterschieden wurde, führt auch die Ortschaft Großeneder ihr 1100-jähriges Bestehen auf diese Urkunde zurück.

Geologie

Lütgeneder liegt im Herzen der Warburger Börde. Am Ortsrand des Dorfes vereinigt sich die Eder, die in Bonenburg unterhalb der Kirche entspringt und durch Engar und Großeneder nach Osten fließt, mit der Eggel; sie nimmt deren Namen an und mündet bei Haueda in die Diemel.

Ihre Fruchtbarkeit verdankt die Borgentreicher Keupermulde, wie die Börde auch genannt wird, vor allem dem Löß, der während der letzten Eiszeit angeweht und in Schichten bis zu 10 m Dicke abgelagert wurde. Wind und Wasser formten die Landschaft weiter, räumten flache Täler aus und schufen weite Landrücken. Landschaftgestaltend wirkten nicht zuletzt auch Vulkane der Tertiärzeit. Sie durchbrachen die Muschelkalk-, Keuper- und Lößschichten an mehreren Stellen und bildeten kegelförmige Berge, in denen die Eruptivmassen zu Basaltgestein erkalteten. So entstanden Desenberg, Dörenberg und Hüssenberg sowie in der Flur von Lütgeneder der Tannenkopf (auch Wörtenberg genannt) und die flache, bewaldete Kuppe des Weißholzes. Der Basaltstein im Inneren dieser Kuppe wurde seit 1835 für den Bau der Kreisstraßen gebrochen und bildete über 100 Jahre lang eine willkommene Einnahmequelle für das Dorf. Heute lädt das Weißholz als einziger Buchenhochwald der baumarmen Bördelandschaft die Bewohner von Lütgeneder und Umgebung zu erholsamen Spaziergängen ein.

Lütgeneder war von jeher ein Bauerndorf und ist es bis zum heutigen Tage geblieben. Der ertragreiche Boden gehört mit durchschnittlich 68 Bodenpunkten zu den fruchtbarsten der Warburger Börde. Umgeben von großen Getreidefeldern und saftigen Wiesen, drängen sich die Häuser des Haufendorfes um den spitzen Kirchturm.

Bodenfunde aus der jüngsten Steinzeit lassen darauf schließen, daß die Flur von Lütgeneder schon vor mehr als 4000 Jahren von ackerbautreibenden Menschen bewohnt war. Sie werden durch rundnackige Steinbeile und Tongefäßscherben, die mit bandartigen Verzierungen versehen sind, als "Bandkeramiker; ausgewiesen. Aus der Bronzezeit wurde am Spielberg ostwärts des Dorfes ein Bronzeschlackebeil gefunden, und an die Zeit der Römer erinnern zahlreiche Münzfunde bei Warburg und in der südlichen Börde, u.a. bei Haus Riepen, Rösebeck und Bühne.

 

800-1000 Grundeigentum der Sachsen

Als Lütgeneder, wie schon erwähnt, 887 ins Licht der Geschichte eintrat, war unsere Heimat ein Teil des "sächsischen Hessengaues" der sich von einer Linie Marsberg - Scherfede - Peckelsheim - Beverungen im Norden bis zur südlichen Grenze von Korbach über Zierenberg, Wolfsanger (bei Kassel) nach Hann.-Münden erstreckte. So weit waren die Sachsen im 7. Jahrhundert in hessisches Gebiet vorgedrungen.

Karl der Große ließ nach der Eroberung des Sachsenlandes die Gaueinteilung bestehen, setzte aber zu ihrer Verwaltung einen oder mehrere Grafen ein. Zur Regierungszeit der karolingischen Kaiser versuchten fränkische Adelige, ihren Einfluß im sächsischen Hessengau zu verstärken. Vor allem war der Frankenherzog Conrad bemüht, hier Besitzungen zu erwerben. Sein Sohn Conrad hatte 905 das Grafenamt inne. Als man ihn 911 zum Kaiser wählte, wurde der zweite Sohn Eberhard Gaugraf. Doch bereits 919 ging die Kaiserwürde an sächhsische Herzöge über. Graf Ebberhard verfeindete sich 939 mit dem sächsischen Kaiserhaus und kam bei einer offenen Empörung zu Tode. Nun fielen alle seine Güter und Rechte an den Kaiser zurück. Dieser belehnte sächsische Adelige damit und vermehrte auch den Besitz des Paderborner Bischofs.

Um das Jahr 1000 war der sächsische Graf Dodiko Inhaber einer bedeutenden Grafschaft, deren Grundherrschaft von Großeneder im Norden bis weit in den nordhessischen Raum hineinreichte und von "Wartberch; (Warburg) aus verwaltet wurde. Als sein einziger Sohn im Jahr 1018 tödlich verunglückte, schloß er mit dem Paderborner Bischof Meinwerk ein "Prekarie-Vertrag". Er vermachte der Paderborner Kirche seinen gesamten Besitz, erhielt aber für den Rest seines Lebens die Nutzung umfangreicher Güter der Kirche, unter anderem auch in Lütgeneder. Einen ähnlichen Vertrag handelte Bischof Meinwerk mit der verwitweten Edelfrau Frederun aus, die aus der vornehmen sächsischen Familie der Esikonen stammte. Sie übertrug der Paderborner Kirche je einen Hof in "Nedere", Escheberg und Haldugun (Hümme) und empfing dafür zu lebenslänglichem Nießbrauch kirchliche Güter in Herstelle und Haldugun (Hümme). Weil dieser Vertrag von Verwandten beanstandet wurde, erhielt Frederun u.a. den Zehnten in "Ostnedere" (Lütgeneder) und eine "optima familia" dieses Ortes, vermutlich zur Verwaltung des Zehnten.

Graf Dodiko starb bereits im Jahre 1020, und Bischof Meinwerk konnte nun über alle Besitzungen und Rechte des Verstorbenen verfügen. Er ließ seine Güter gemäß einer "Fronhofsverfassung" durch die Einrichtung von Haupthöfen und Vorwerken verwalten. Diese wurden von Ministerialen geleitet, denen wiederum angesehene Meier unterstellt waren. Das Vorwerk "Ostnedere" gehörte zum Haupthof "Dasbruch" (Daseburg). Als Bischof Meinwerk 1036 in Paderborn das Busdorfstift gründete, stattete er dieses Kloster mit dem Zehnten der bischöflichen Güter aus, u.a. in Lütgeneder.

Weiter auswärtige Grundeigentümer oder Empfänger von Zehnten waren das Kloster Helmarshausen, die Familie von Pappenheim, das Stift Neuenheerse und das Kloster Corvey. Letzteres verkaufte 1418 seinen Amtshof, den es durch Tausch von der Paderborner Kirche erworben hatte an das Kloster Hardehausen. Anlaß dazu war das Aussterben der Familie von Mederike, die diesen Hof bis dahin als Lehen besaß. 1453 vermachte der Knappe Johann
von Sunrike, "Borchmann to Borgentrike", dem Kloster Warburg 15 Schilling von seinen 2 Hufen freien Landes in "Lüttiken Nedere", und eine Urkunde aus dem Jahre 1502 bestätigt, daß die Brüder Heydenreich und Rave van Heigen aus Großeneder in der Flur von Lüttiken Neder vier Hufen Landes besaßen, von denen sie 4 Malter Korn den "ehrwürdigen und geistlichen Jungfrauen des Klosters Willebadessen" als jährliche Abgabe schenkten.

Inhaber der "Kruggerechtigkeit; in Lütgeneder war der bischöfliche Landesherr. An ihn hatte der jeweilige Inhaber des Dorfkruges eine jährliche Pacht zu entrichten. Der Bischof setzte auch den Dorfrichter ein. Dessen Aufgabe war es, Streitigkeiten unter den Dorfbewohnern zu schlichten und kleinere Vergehen zu ahnden. Für größere Delikte war das Gericht der Landdrosten in Dringenberg zuständig.

Spätes Mittelalter

Wenn man versucht, die Geschichte eines Ortes zu erforschen, kann man feststellen, daß die Chronisten vor allem über ungewöhnliche und zum Teil schlimme Ereignisse berichtet haben. Fehden, Seuchen, Kriege,Brandkatastrophen und Mißernten charakterisieren das Bild der Jahrhunderte,und man wundert sich, daß die Bevölkerung überlebt hat. Offensichtlich aber gab es auch normale und glückliche Zeiten, in denen die Menschen sich von Schrecken erholten und Zerstörtes neu und zumeist auch schöner wieder aufbauten.

Im späten Mittelalter hatte die Bevölkerung sehr unter den zahlreichen Fehden zu leiden. Es waren Kleinkriege zwischen Adeligen (Rittern) und Städten, zwischen Rittern und dem Landsherrn sowie zwischen dem Landsherrn und seinen Städten. Wenn sich die Dorfbewohner auch nicht am jeweiligen Streit beteiligten, wurden sie doch
in Mitleidenschaft gezogen und waren der Willkür bewaffneter Raubritter und ihrer Knechte schutzlos preisgegeben. In diesen unruhigen Zeiten verließen die Bewohner mancher kleinen Weiler ihre Höfe und verzogen in größere Nachbardörfer oder befestigte Städte. Wie oben schon erwähnt wurde, soll damals das Dorf Dalpenhausenverlassen worden sein. Aufgegeben wurde auch das Dorf Echene. Es lag etwa 11 1/2 km nordöstlich von-  Lütgeneder in der Nähe des heutigen Christinenhofes und wird zwischen 1120 und 1385 des öfteren urkundlich-  erwähnt. Seine Bewohner verzogen offenbar in die befestigte Stadt Borgentreich, deren Flurgrenze seither bis an-  den östlichen Ortsrand von Lütgeneder reicht.

16. & 17. Jahrhundert

Von den Wirren der Reformationszeit blieb die Warburger Börde weitgehend verschont. Das 16. Jahrhundert scheint in unserer Heimat eine relativ friedliche und glückliche Zeit-  gewesen zu sein, in der Handel und Wandel blühten. Die Städte Warburg und Borgentreich waren Mitglieder des Hansebundes. Ansehnliche Bürgerhäuser in den Städten und großzügig gestaltete Burgen und Schlösser der-  adeligen Herren auf dem Lande zeugen vom Wohlstand dieser Epoche, die als Weserrenaissance in die-  Baugeschichte einging.

Leider fand diese günstige Entwicklung im 17. Jahrhundert ein Ende. Die Spannungen zwischen Katholiken und-  Protestanten waren nach dem Augsburger Religionsfrieden (1555) nicht endgültig beigelegt worden. Sie flammten um 1610 wieder auf und führten schließlich zum Dreißigjährigem Kriege (1618-1648). Für das Fürstbistum
Paderborn, das von drei Seiten von protestantischen Gebieten umgeben war, wirkte er sich verheerend aus. Am 30. Dezember 1621 fiel der protestantische Feldherr Christian von Braunschwweig, als der "tolle Christianunrühmlich bekannt geworden, in das Warburger Land ein. Weil er die befestigte Stadt Warburg nicht einnehmenkonnte, ließ er vor Zorn die Hüffert, Wormeln und Ossendorf in Brand stecken und zog weiter in Richtung Paderborn. Bei seiner Rückkehr im folgenden Frühjahr kamen die Dörfer in der Warburger Börde nicht so glimpflich davon. Um seinen Lösegeldforderungen an die Städte, Klöster und Adelssitze Nachdruck zu verleihen, ließ Christian am 23. März 1622 wahllos Hohenwepel, Großeneder und Lütgeneder in Brand setzten. Es begann nun ein jahrzehntelanger Bewegungskrieg, die dem die ungeschützten Dörfer unter durchziehenden Truppen furchtbar zu leiden hatten, ohne Unterschied, ob es verbündete oder feindliche Einheiten waren. Raub, Mord und Brand waren an der Tagesordnung. 1647 sollen in Lütgeneder von 42 Bauernhäusern 25 zerstört und unbewohnt gewesen sein.

Als 1648 endlich Friede war, erholte sich die völlig verarmte Landbevölkerung nur mühsam, und die so oft geplünderten Städte Warburg, Borgentreich undPeckelsheim erreichten nie mehr ihre frühere Bedeutung. Trotzdem setzte um 1700 wieder eine rege Bautätigkeit ein. Klöster, Kirchen und Schlösser wurden im üppigen Barockstil errichtet und im Innern verschwenderisch ausgestattet. Auch Lütgeneder erhielt 1728 eine neue Kirche. Doch schon kündigte sich neues Unheil an. Preußens Kriege gegen Österreich um den Besitz von Schlesien weiteten sich aus, und eine unglückliche Bündnispolitik machte das fast unbewaffnete Hochstift Paderborn zum Kriegsschauplatz zwischen Franzosen und alliierten Truppen aus Hannover, Braunschweig, Hessen-Kassel undEngland.

Der Siebenjährige Krieg

Der Siebenjährige Krieg (1756-1763) hatte in unserer Heimat zum Teil noch schlimmere Auswirkungen als der Dreißigjährige. Dauernde Einquartierungen, Plünderungen und Contributionen (Abgaben) belasteten vor allem die Dorfbewohner. Lütgeneder mußte im Winter 1758/59 hessische Leibdragoner mit 74 Pferden aufnehmen, und nach der "Schlacht" bei Warburg am 31. Juli 1760, in der die Franzosen eine empfindliche Niederlage erlitten, waren fast alle Bördedörfer vonalliierten Truppen besetzt.

Die Kirchenchronik berichtet darüber: "Die Getreidefelder wurden verwüstet, die Holzungen beschädigt, die Einwohner mißhandelt. Der Schaden, welchen die Alliierten der hiesigen Gemeinde im Weißholz und Stubbig (wo sich auch noch Waldungen befanden) zugefügt haben, ist auf 5216 Rth. Abgeschätzt."Mündlich wird-  überliefert, daß sich damals zwischen Wörtenberg und Weißholz ein Feldlager befand. Bei Kriegsende drohte den Bewohnern der fruchtbaren Börde eine Hungersnot. Durch "grünes Fouragieren" der Felder war in den letzten Jahren kaum noch Getreide geerntet worden. Es mangelte vor allem an Saatgut, das für teures Geld in anderen Gegenden gekauft werden mußte.

Nach einem Kopfschatzregister lebten 1788 in Lütgeneder 75 katholische und 2 jüdische Familien. Die Einwohnerzahl betrug 429. Von den Bauern waren einige freie Meier, die Haus und Hof als Lehen innehatten und dafür Pachtabgaben entrichten mußten; Pflichten und Rechte wurden im sogenannten "Meierbrief" festgelegt. Die Mehrzahl der Dorfbewohner scheint aber "eigenbehörig" gewesen zu sein. Sie standen in persönlicher Abhängigkeit vom Grundherrn und durften ohne dessen Genehmigung den Hof nicht verlassen oder aus dem Dorf wegziehen. Selbst zum Heiraten benötigten sie seine Zustimmung. Eine Urkunde aus dem
Jahre 1696 belegt, daß man sich von der "Eigenhörigkeit freikaufen konnte. Ein Jürgen Redegeld aus Lüttkeneder erkaufte diese Befreiung für sich, seine FrauEven (Eva) Gottfried und seinen einzigen Sohn Johann für 120 Rthlr. Vom Bischof Hermann Werner zu Paderborn. Das Geld mußte bei der Renthenkammer des Oberamtes Dringenberg eingezahlt werden.

19. Jahrundert

Durch die Säkularisation im Jahre 1803 wurden die geistlichen Fürstentümer aufgehoben. Das Bistum Paderborn kam zum Königreich Preußen. Hier gelang es dem Freiherrn von und zum Stein, ein Edikt zur Abschaffung der Erbuntertänigkeit der Bauern durchzusetzen. Ihre persönliche Hörigkeit gegenüber dem Grundherrn hatte ein Ende, und die bis dahin zu leistenden Dienste und Abgaben konnten durch Zahlung einer bestimmten Summe Geldes abgelöst werden. Die finanziellen Mittel der Landbevölkerung waren jedoch sehr beschränkt, und es entstand eine große Kreditnot. Manche Hypotheken konnten erst nach Jahrzehnten gelöschtwerden. Eine wesentliche Verbesserung der Situation brachte die Gründung der Kreis- und Stadtsparkasse Warburg im Jahre 1844; sie bot den verschuldeten Bauern die Möglichkeit, sich aus der Abhängigkeit von privaten Geldverleihern zu befreien.

In Lütgeneder war die Lage besonders schwierig; denn am 15. April 1803 brannten bei einer ungewöhnlich Feuersbrunst alle Gebäude bis auf 16 nieder. Kaum waren die zerstörten Häuser wieder aufgebaut, da kam es am 12. Februar 1828 zu einer neuen Brandkatastrophe, bei der 19 Häuser vernichtet wurden. Damit war die Pechsträhne noch nicht zu Ende; denn von 1829-1835 gab es mehrere Mißernten, die vor allem die ärmere Bevölkerung in große Not brachten. Um so erstaunlicher ist es, daß die Lütgenederer 1842 schon wieder bereit und in der Lage waren, für den dringend notwendigen Bau einer neuen Kirche zu spenden und Hand- und Spanndienste zu leisten. Einzelheiten über den Bau und die Ausstattung der Kirche wurde oben schon geschildert.

Zwei andere Ereignisse waren für Lütgeneder von großer Bedeutung. Der bereits erwähnte Ausbau der Landstraße von Ossendorf nach Beverungen (1844-1847)  schloß den bisher etwas abseits liegenden Ort an das Wegenetz des Kreises an und schuf bessere Verbindungen nach Warburg und Borgentreich. Seit dem 15. Juli
1849 verkehrte dienstags und freitags erstmals eine Personenpost von Warburg nach Beverungen und zurück. Auf der Hinfahrt kam sie um 9 Uhr in Lütgeneder an, auf der Rückfahrt abends um 6 Uhr. Die gute Verkehrslage war sicher auch entscheidend für die Gründung der Molkerei-Genossenschaft-Lütgeneder im Jahre 1893, die zunächst die anfallende Milch der benachbarten Dörfer und Gutshöfe verarbeitete, nach 1933 aber ihr Einzugsgebiet bis nach Neuenheerse erweitern konnte. Auch bei der Gründung einer Trocknungsgenossenschaft e.G. im Jahre 1952 gab die zentrale Lage Lütgeneders bei der Standortwahl den Ausschlag. Über beide Einrichtungen wird an anderer Stelle dieser Schrift noch ausführlich berichtet.

Als zweite wichtige Maßnahme für unser Dorf erwies sich die zunächst mit großer Skepsis erwartete Separation. Sie wurde 1851 abgeschlossen und verbesserte durch die Verkoppelung der zerstreut liegenden Grundstücke und durch denn Bau guter Feldwege die Arbeitsbedingungen der Landwirte sehr. Erschlossen wurden dabei auch die Ländereien des ehemals bewaldeten Stubbig. Mit behördlicher Genehmigung war das sogenannte "Stubbig Holz", dessen Eichen nach dem oben erwähnten Bränden als Bauholz geschätzt wurden, im Jahre 1847 abgeholzt und der Boden urbar gemacht worden.

Leider war die Witterung in den folgenden Jahren sehr ungünstig, und als man 1856 endlich mit einer besonders guten Ernte rechnete, machte am 14. August ein schweres Gewitter mit furchtbarem Hagelschlag alle Hoffnungen zunichte. Die Verwüstung der Felder und die Schäden im Weißholz müssen so verheerend gewesen sein, daß unter Vorsitz des damaligen Landrats von Spiegel eine Unterstützungskommission für Lütgeneder gegründet wurde. Doch auch dieses Unglück konnte die Bewohner nicht entmutigen. Er stärkte vielmehr das Zusammengehörigkeitsgefühl, das sich schon nach wenigen Jahren in neuen Spenden für Gemeinschaftseinrichtungen, insbesondere für Kirche und Schule, zeigte. Als eines der ersten Dörfer des Kreises Warburg beschloß Lütgeneder bereits im Jahre 1911, eine Gemeindehalle zu bauen; ein kühner Beschluß, wenn man die Größe des Ortes berücksichtigt. Er wurde aber in die Tat umgesetzt, und am 9. Juni 1912  fand darin das erste Schützenfest statt.

Erster und Zweiter Weltkrieg

Die oft gepriesene gute Epoche der "Kaiserzeit" nahm durch den Ausbruch des ersten Weltkrieges ein jähes Ende. Die meisten der wehrpflichtigen Männer wurden zum Kriegsdienst herangezogen, und 17 von ihnen starben den Tod fürs Vaterland.

Wirtschaftliches Chaos, Inflation und Arbeitslosigkeit kennzeichneten die Nachkriegszeit. Sie veranlaßten auch in Lütgeneder junge Bürger, nach Amerika auszuwandern oder sich als Siedler in den deutschen Ostprovinzen eine Existenz aufzubauen. So erwarben 1927 Fritz Derental ein Hof im Kreise Tost-Gleiwitz in Oberschlesien, August Derental und Ferdinand Nolte je einen Hof im Kreise Namslau in Niederschlesien. 1932 siedelten Heinrich Thomas im Kreise Parchim in Mecklenburg und Josef Nolte sowie Hermann Nolte in Treskow-Neuruppin in Brandenburg. Nach 1945 verblieben Heinrich Thomas undHermann Nolte in Ostdeutschland, während die anderen in die Heimat zurückkehrten.

Während der Regierungszeit der Nationalsozialisten (1933-1945) kam es zunächst zu einer wirtschaftlichen Scheinblüte. Notstandsarbeiten beseitigten die Arbeitslosigkeit, und verschuldete Bauernhöfe wurden saniert. Um vom Ausland, in dem unser Geld nur geringe Kaufkraft besaß, möglichst unabhängig zu werden, rief der "Führer
zur "Erzeugungsschlacht" auf und verpflichtete alle Bevölkerungsschichten, die in vielfältigen NS-Organisationen straff organisiert wurden, an diesem Projekt mitzuarbeiten. Einzelheiten über die Situation der Bevölkerung oder besondere Ereignisse in Lütgeneder während der ersten Jahre der "Hitlerzeit werden weder in der Pfarrchronik noch in der Schulchronik erwähnt. Ausführlicher ist der Bericht über die Jahre 1932 und 1933. So schriebt der Chronist u.a.: "Der erste Nationalsozialist im braunen Hemd durchfuhr unser Dorf Ende Juni 1932, bis dahin hatten wir noch kein Braunhemd gesehen. Bis zum 30. Januar 1933 (Tag der Machtübernahme durch Adolf Hitler) war hier außer N.N. (einem-  Molkereigehilfen) kein eingeschriebenes Mitglied der Partei. Bei der Novemberwahl 1932 hatte man 13 Stimmen für die NSDAP gezählt. Am 5. März 1933  waren es zwar schon 39 Stimmen=12,6%, mehr als 80% der Wähler waren jedoch der Zentrumspartei treu geblieben. Die Märzwahl 1933 war die letzte freie Wahl gewesen; bei den Wahlen der nächsten Jahre durften die Bürger eine geschickt gestellte Frage der Regierung nur noch mit "Ja" oder "Nein" beantworten.

Spätestens im Frühjahr 1939 ahnte die Mehrheit der Bevölkerung, daß Hitlers bemühen, durch den "Anschluß- Österreichs, des Sudeten- und des Memellandes ein "Großdeutsches Reichaufzubauen, früher oder später zu einem neuen Kriege führen würde. Dieser begann am 1. September 1939 und forderte auch in Lütgeneder schwere Opfer. Die Gemeinde hatte 38 gefallene und vermißte Soldaten zu beklagen. Über ihr Schicksal und das aller anderen Kriegsteilnehmer wird in der Schulchronik berichtet. Der Chronist, Lehrer i.R. Hermann Scholle, hat auch den Einmarsch der amerikanischen Truppen am 1. Ostertag 1945, bei dem 11 Häuser und 14 Scheunen durch Beschuß zerstört oder schwer beschädigt wurden, in allen Einzelheiten geschildert. Durch den sinnlosen Versuch weniger deutscher Soldaten, Lütgeneder zu verteidigen, war es zum Beschuß des Dorfes durch feindliche Artillerie und Panzer gekommen. Bei den Kampfhandlungen kamen 2 deutsche Soldaten ums Leben und wurden auf dem Friedhof beerdigt; unter der Zivilbevölkerung gab es keine Verluste.

Wiederaufbau & Bürgermeister

Nach dem verlorenen Kriege folgten schwere Jahre. Der Wiederaufbau der zerstörten Häuser Verzögerte sich durch den Mangel an Baumaterialien, und viele notwendigen Dinge waren nur im Tauschhandel zu bekommen. Erst nach der Währungsreform im Jahre 1948 ging es wieder aufwärts. Nun konnte auch der dringend notwendige Schulbau geplant und begonnen und, wie oben schon erwähnt, 1955 abgeschlossen werden. 1961 wurde das-  Wasserleitungs- und Kanalnetz gebaut und 1962 eine Kläranlage in Betrieb genommen. 1971 erfolgte eine Erweiterung der Dorfhalle und 1975 die Errichtung der Friedhofskapelle. In den nächsten Jahren wurden im Bruch ein neues Sportgelände erschlossen, ein Sportplatz angelegt und ein Sportheim errichtet, das 1985 eingeweiht werden konnte.Unerwähnt blieben bisher die Männer, die im Laufe der letzten 200 Jahre die Aktivitäten der Dorfgemeinschaft mitgeplant, organisiert und verantwortet haben. Gemeint sind die Vorsteher oder Bürgermeister, die die politische Gemeinde während dieser Zeit leiteten. Ihre Namen und Amtszeiten waren jedoch schwer zu ermitteln, weil die Dorfchronik von Lütgeneder bei denKampfhandlungen Ostern 1945 verbrannt ist.

In dem bereits erwähnten Kopfschatzregister von 1788 wird ein Anton Ernst als Bürgermeister genannt. Ihm standen der Dorfrichter Johan Jürgen Redegeld und drei Vorsteher zur Seite. Diese Gemeindeverfassung änderte sich nach der Säkularisation im Jahre 1803.Unter preußischer Regierung wurden die Dörfer von einem Bürgermeister und 6 Gemeinderäten verwaltet. Aus der Kirchenchronik erfahren wir, daß 1842 Johannes Rose (heute Lange) Ortsvorsteher war. Ihm folgte um 1850 Franz Josef Knaup (Paulis). Während der Amtszeit des Pfarrers Gierse wird 1895 Johannes Wiesen (Egges) als Vorsteher genannt. Seine Nachfolger waren wahrscheinlich Josef Bode und Josef Wiesen. Letzterer wurde im April 1933 in seinem Amt bestätigt, dann aber von Anton Nolte abgelöst.

Nach dem zweiten Weltkriege ernannte die Militärregierung Bernhard Bode zum "Bürgermeister
. Das war die neue Amtsbezeichnung für den bisherigenVorsteher. Ihm folgte 1952 Anton Schonheim, dessen Amt 1956 wieder von Bernhard Bode übernommen wurde. 1961 fiel die Wahl auf Josef Förster. Er verstarb unerwartet im Oktober 1964, und sein Nachfolger wurde Paul Welling, der das Amt bis zum 31. Dezember 1974 innehatte.Durch die Gebietsneuordnung und Verwaltungsreform von 1975 verlor auch die Gemeinde Lütgeneder ihre Selbständigkeit. Sie wurde ein Ortsteil der Flächengemeinde Borgentreich. Statt des bisherigen Gemeinderates, mit einem Bürgermeister an der Spitze, vertritt nun der Ortsvorsteher allein die Interessen des Dorfes. Diese Amtsbezeichnung erinnert zwar an die früheren Ortsvorsteher, die von 1803 bis 1945 den Gemeinden vorstanden, seine Kompetenzen aber sind ungleich geringer. Seit 1975 bekleidet Werner Rust dieses Ehrenamt; er wird von einem Ortsbeirat beraten und unterstützt.

Landwirtschaftliche Entwicklung

Im ersten Kapitel dieser ortsgeschichtlichen Betrachtung wurde festgestellt, "Lütgeneder war von jeher ein Bauerndorf und ist es bis zum heutigen Tage geblieben. Geändert hat sich im Laufe der Jahrhunderte vor allem die Art der Bodennutzung. Die "Feldgraswirtschaft" der Frühzeit gewährte dem Acker-  nach der Ernte einige Jahre Ruhe, und die "Dreifelderwirtschaft" vom Mittelalter bis ins 19. Jahrhundert ließ jeweils ein Drittel des Bodens brach liegen. Letztere wurde von der "Fruchtwechselwirtschaft" abgelöst, die dem Boden vermehrt Nährstoffe entzog. Diese ersetzte man seit Ende des 19. Jahrhunderts neben natürlicher Düngung durch Mineraldünger, der in Verbindung mit Bodenverbesserungsmethoden eine Vervielfachung der Erträge ermöglichte. Dabei wurde die Wirtschaftsstruktur weitgehend erhalten. Bodennutzung und Viehhaltung blieben fast 100 Jahre unverändert. So ergab die Viehzählung am 1.12.1897 in Lütgeneder: 86 Pferde, 381 Stück Rindvieh, 19 Schafe, 352 Schweine, 59 Ziegen, 318 Gänse, 41 Enten und 1126 Hühner. Am 5. Dezember 1933 zählte man: 82 Pferde, 485 Stück Rindvieh, 592 Schweine, 24 Ziegen, 246 Gänse und 1563 Hühner. Die Zahl der Pferde war also nach 36 Jahren noch fast die gleiche, bei Rindvieh, Schweinen und Hühnern ist ein Anstieg und bei Ziegen und Gänsen eine Verminderung festzustellen. Umfassende strukturelle Veränderungen erfuhr die Landwirtschaft jedoch Mitte der sechziger Jahre. Motorisierung und Mechanisierung ersetzten weitgehend die menschliche Arbeitskraft, zwangen aber auch viele kleinere Betriebe, aufzugeben und die Landwirtschaft nur noch als Nebenerwerb zu betreiben. So verblieben von den ehemals etwa 40 bäuerlichen Familienbetrieben in Lütgeneder nur noch 18 Vollerwerbsbetriebe. Diese intensivierten die Bewirtschaftung und konzentrierten sich z.B. auf Schweinezucht und -mast, Bullenmast oder auf Milchwirtschaft. Heute zählt man in unserem Dorf: 0 Pferde, etwa 420 Stück Rindvieh, 30 Schafe, aber 3000 Schweine. Die Zahl der in der Landwirtschaft Beschäftigten hat stark abgenommen. Nachgeborene Bauernsöhne und Töchter erlernen einen anderen Beruf und finden vielfach als Auspendler Beschäftigung in den benachbarten Städten.

Durch die Motorisierung wurden auch die von der Landwirtschaft abhängigen Handwerksbetriebe überflüssig; zwei Schmiede und ein Stellmacher mußten ihren Betrieb schließen. Nachdem auch unsere zwei Schuster, ein Schneider und ein Schreiner der Konkurrenz der Bekleidungs- bzw. Möbelfabriken gewichen sind, gibt es in Lütgeneder an gewerblichen Betrieben nur noch zwei Gaststätten, ein Lebensmittelgeschäft, einen Malerbetrieb und eine Autowerkstatt.

Dieser Verlust an dörflicher Substanz - es wurde schon erwähnt, daß der Ort einen eigenen Pfarrer, keine Schule und keinen Lehrer mehr hat - birgt die Gefahr in sich, daß das Dorf seinen Identität verliert. Hier sind die örtlichen Vereine aufgerufen, durch die Gestaltung des örtlichen Lebens in Fest, Feier und Brauchtum die Gemeinschaft zusammenzuhalten. Der Rückblick auf die Höhepunkte in der Ortsgeschichte und auf die Leistungen der Vorfahren-  möge das Selbstgefühl der Bewohner erhalten. So lange noch junge Leute stolz darauf sind, Lütgenederer zu sein, ist unserem Dorf eine gute Zukunft sicher.


Anmerkungen: 1 Hufe = ca. 30
Morgen ; 1 Rth (Rthtr) = 1 Reichstaler = ca. 30g Silber

Quellen und Literatur:

  • Chroniken der Pfarrgemeinde und der Schule
  • Urkunden aus dem Kopialbum des Klosters Willebadessen, Archiv des- Vereins für Geschichte und Altertumskunde, Westf., Abt. Paderborn
  • Hermann Bannasch: Das Bistum Paderborn unter den Bischöfen Rethar und Meinwerk (983-1036)
  • N. Rodenkirchen und G. Pfeiffer: Bau- und Kunstdenkmäler von Westfalen, Bd.- 44, Kreis Warburg, Münster 1939
  • Ostendorf, Pfarrer: Beiträge zur Geschichte des "sächsischen- ; Hessengaues, Warburger Kreiskalender 1923 S.40ff, 1924 S.61ff, 1925S.33ff
  • Walter Jürgens: Warburger Bauern und Handwerker siedelten im Osten, Warburg 1971